Die Weltentstehung

Es gab eine Zeit, da nichts war. Da waren nicht Erde noch Sand, nicht das Meer und die See, und nicht der Himmel mit seinen Sternen. Am Anfang war nur Ginnungagap, das gähnende, lautlose Nichts. Da schuf Allvaters Geist das Sein, und es entstand im Süden Muspellheim, das Land der Glut und des Feuers, und im Norden Niflheim, das Land der Nebel, Kälte und Finsternis. Neun Reiche erschufen die Götter in der Welt, drei unterirdische, drei irdische und drei himmlische. Tief im Innern der Erde lag Niflheim, das Land des Eises und der Toten. Niflheim war der tiefste Abgrund, in dem die Verbrecher und Meineidigen ihre Strafe erleiden. Wanaheim war der Wohnsitz der Wanen. Im Land Nidavellir wohnten die Nachtzwerge, die verwachsen und häßlich waren, so daß von ihnen gesagt wurde, es sei besser, sie nicht zu beschreiben. Sie waren vieler Künste kundig, schmiedeten köstliche Kleinodien, scharfe Schwerter und Waffen. Sie schreckten und quälten bei Nacht die Menschen, waren aber auch dankbar, wenn ihnen jemand in der Not geholfen hat. Auf der Erde lag Midgard, das von den Menschen bewohnt wurde, und Jötunheim, in dem die Frost- und Reifriesen, hausten. Im Himmel war das Feuerland Muspelheim, und Alfheim, wo die Hellelfen lebten, schön von Gestalt und immer fröhlich. Sie waren Freunde der Menschen. Vor allem aber ist Asgard, zu nennen, das heilige Land der Asen. Dort wohnten die Götter in zwölf Schlössern, die sie sich erbaut hatten. Eine gewaltige Brücke, Bifröst, der Regenbogen, verband Erde und Himmel. Nur die Götter konten die Brücke überschreiten, die von dem klugen Heimdall bewacht wurde. Er trug ein Horn, Giallar genannt, mit dem er am Tage der Götterdämmerung, die Asen zum Kampf rufen wird. Aus dem Norden, in Niflheim, entsprang ein tosender Quell, aus dem zwölf Ströme hervorbrachen. Die stürzten in den Abgrund, der Norden und Süden trennte, und erstarrten zu Eis. Aus Muspelheim flogen Funken auf das Eis, die Starre begann zu schmelzen, und der Riese Ymir taute daraus hervor. Kurze Zeit später kam aus dem Eis die Urkuh Audumbla, von deren Milch Ymir sich nährte.
Eines Tages sank Ymir, nachdem er sich satt getrunken hatte, in tiefen Schlaf, und aus seinen Achselhöhlen wuchsen zwei Riesenwesen, Mann und Weib.
Aus diesen beiden entstammt das Geschlecht der Frost- und Reifriesen.
Audumbla, die nirgends Gras fand, leckte an den salzigen Eisblöcken, und ihre Zunge löste am dritten Tage einen Mann aus dem Eis, der war stark und schön und nannte sich Buri. Er erschuf aus eigener Kraft einen Sohn, den er Bor nannte. Bor nahm die Riesin Bestla zu seiner Frau und zeugte mit ihr drei Söhne: Odin, Vili und Ve.
Mit ihnen kam das Göttergeschlecht der Asen in die Welt. Odin, Vili und Ve zogen aus, um die Herrschaft über die Schöpfung zu gewinnen, und erschlugen den alten Riesen Ymir. Die Blutströme aus Ymirs Wunden überfluteten die Welt, und alle Frostriesen ertranken, bis auf Bergelmir und seine Frau, die Ahnen der späteren Riesen.
Den toten Leib Ymirs warfen die Brüder Odin, Vili und Ve in den Abgrund zwischen Muspelheim und Niflheim und schufen aus ihm die Erde. Aus Ymirs Blut entstanden die Ströme und Meere, aus seinem Fleisch die Erde, aus Knochen und Zähnen Berge und Felsen, und aus seinem Schädel wurde die Wölbung des Himmels geschaffen. Als die Asen das Hirn des Riesen in den Himmel schleuderten, blieb es als Wolken in den Lüften hängen. Die Haare wurden zu Bäumen, die Augenbrauen bildeten einen Wall, der Midgard, das Land der Menschen, gegen das Meer und die Riesen schützen sollte. Aus Funken, die von Muspelheims Feuer herüberstoben, schufen die Götter die Sterne, denen sie Namen gaben, und jedem seine Bahn zuwiesen.
Eines Tages sahen Odin und seine Brüder am Strand zwei Bäume, die Esche und die Ulme. Aus der Esche formte Odin den ersten Menschen, einen Mann, und aus der Ulme die Frau. Odin hauchte ihnen Leben und Geist ein, Vili gab ihnen Verstand und Gefühl, und Ve schenkte ihnen die Sinne des Gesichts und Gehörs, dazu die Sprache.

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Midgard war das Reich der Menschen; Niflheim das Reich der Kälte. Genau in der Mitte der Welt, in Asgard, bauten sich die Götter, die Asen, ihre eigenen Wohnungen. Dort thronte in Walhalla, der größten und prächtigsten Halle, Odin, der höchste Gott, und waltete über die Welt und über den Menschen. Auf seinen Schultern saßen zwei Raben, Hugin, der Gedanke, und Munin, das Gedächtnis, die auf sein Geheiß täglich ausflogen, und ihm ins Ohr zu raunen, was sie gesehen und gehört haben. In heiligen Nächten ritt Odin auf Sleipnir mit seinem Gefolge in wilder Jagd über die sturmgepeitschten Baumwipfel durch die Lüfte dahin. Oft stieg er auch in menschlicher Gestalt, einen blauen sternbesäten Mantel um die Schultern und einen breitkrempigen Hut auf dem Haupt, zur Erde hinab, um den Sterblichen sein Mitgefühl zu zeigen, ihnen zu helfen und ihre Gastfreundschaft zu erproben. Im Getümmel des Kampfes trug der Waffengewaltige eine strahlende Rüstung und Gungnir, seinen mächtigen Speer. Er nahm am Kampfe nicht selbst teil, sondern ritt auf seinem achtfüßigen Roß Sleipnir über die Walstatt und zeichnete mit dem Speer die Männer, denen er den Tod bestimmt hatte. Die Walküren, Schlachtenjungfrauen von herrlicher Schönheit, begleitetem ihn und trugen die Gefallenen auf ihren feurigen Rossen nach Walhalla empor. Odins Sohn Thor, der auch Donar genannt wurde, war der kraftvolle Donnergott. Er half Göttern und Menschen und gewährte besonders den Schwachen seinen Beistand. Er hatte Gewalt über Wind und Wogen, über Blitz und Donner. Im rollenden Wagen, der von Böcken gezogen wurde, fuhr er auf den Wolken dahin, in der Rechten Mjölnir, den Hammer, der nach dem Wurfe in seine Hand zurückkehrt. Wie alle Götter wurde auch er von den Menschen nicht in Tempeln verehrt, sondern in Hainen, von den Bäumen ist ihm die sturmfeste Eiche heilig. In der Reihe der Göttinnen ist Odins Gemahlin Frigg, die mit ihm den Thron in Asgard teilte, die Königin der Götter und Menschen. Segenspendend und Licht schenkend schritt Baldur, der Gott der Frühlingssonne, der für das Gute und Gerechte kämpfte, über die Erde. Sein Bruder war der blinde Hödur, der Gott des Winters, der Finsternis und Kälte. Niemand liebte ihn, und überall, wo er herrschen durfte, erstickte das Leben. Loki, der Gott des Feuers, zeigte wankelmütigen, oft tückischen Sinn und hielt es mal mit den Asen, und mal mit den Riesen, die im rauhen Nordland hausten und den Frieden in der Welt zu stören trachten. Der Fenriswolf und die Midgardschlange waren Lokis furchtbare Kinder. Ein alter Wahrspruch kündete den Asen, daß der Wolf Fenris ihren Untergang herbeiführen werde. Da fesselten die Götter ihn mit List, banden das Untier an einen Felsen im Meer und sperrten ihm den Rachen mit einem Schwert zu. Schauerlich heulte der Wolf in Schmerz und Wut. Am Tage der Götterdämmerung aber würde er sich befreien und gegen die Asen kämpfen, ebenso wie die Midgardschlange, die auf dem Grunde des Meeres ruhte und die ganze Erde mit ihrem Leib umschlang.
In der Mitte von Asgard, stand Yggdrasil, die immergrünende Weltesche, die mit ihrer Krone hoch über das Himmelsgewölbe hinausragte und ihre Äste über die ganze Welt hin breitete und mit ihren Wurzeln die Hel, das Reich der Gewesenen, deckte. Am Urdbrunnen, an dem die Esche stand, wohnten die Nornen. Sie wußten um das Schicksal aller Götter und Menschen. Denn niemand sonst kannte es, selbst Odin nicht. Nicht immer würde Yggdrasil grünen, denn Nidhögg, der Drache, nagt an ihren Wurzeln, und einst wird der Tag kommen, da die Weltesche welken muß. Dann bricht Ragnarök, der Tag der Götterdämmerung, über Asgard herein; der Fenriswolf reißt sich von seinen Fesseln los, die Midgardschlange erhebt sich aus dem Meer, und die Riesen kommen. Götter und Helden sammeln sich zum letzten Kampf. Dann werden Asgard und Midgard vergehen, und alles Leben erlischt.


Die Asen


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